Bernhard Fokken
Das Rheiderland unter dem Hakenkreuz
(Siebenteilige Serie aus der Rheiderland Zeitung, erschienen im Januar/Februar 1983)
"Ohne Hoffnung kann man das Lager nicht überleben"
Teil 6 (05.02.1983)
Rheiderländer Arbeiter im KZ Börgermoor - Dort stand die Wiege der SED
Zu den ersten Bürgern, die von den Nazis in Schutzhaft genommen und in ein KZ gesteckt werden, zählen die Anhänger der politischen Linken. Im Juli 1933 ist Jan Ahlers (Anmerkung: Dieser Name ist ein Pseudonym), heute 86 Jahre alt, an der Reihe. Der frühere Arbeiter wohnt im Oberrheiderland, ist politisch hellwach, verfügt über ein präzises Gedächtnis, kann viel erzählen.
Ahlers baut 1933 Mohrrüben an und bringt sie gemeinsam mit einem seiner Söhne, damals 14 Jahre, mit dem Fahrrad nach Hatzum. Es ist ein Tag im Juli. Er bemerkt schon längere Zeit die beiden Polizeibeamten, die ihnen folgen. Schließlich rufen sie "Halt".
Es dauert nicht lange und Jan Ahlers sitzt in einer Zelle im Keller des Rathauses Leer, gemeinsam mit anderen Leidensgenossen. Auch Rheiderländer sind darunter. Ahlers erinnert sich an den Sozialdemokraten Jan Gruis aus Tichelwarf. Er denkt auch noch an die Frau des Hausmeisters Bernd, die mit Tränen in den Augen vor dem Kellerfenster gesessen und den Häftlingen Trost zugesprochen hat.
Am frühen nächsten Morgen, es ist noch dunkel, hält ein Viehwagen vor der Tür, die Gefangenen aus dem Gerichts-Gefängnis stehen schon auf der Ladefläche. 19 Gefangene, bewacht von 21 bewaffneten Wärtern treten die Fahrt in das KZ Börgermoor im Emsland an. Ahlers kommt in das Lager I, erhält die Nummer 333. "sofort fangen wir an zu dränieren im Moor, in Halbschuhen, wir haben immer nasse Füße".
Sechs Uhr morgens geht es ins Moor. Ahlers bedauert eine Gruppe Gefangener aus Köln: "Die hatten zum Teil noch nie einen Spaten in der Hand gehabt. Das war schlimm für die. Wir Ostfriesen waren Handarbeit gewohnt, machten unsere Arbeit fertig und konnten den anderen helfen".
Die Kölner lassen den Mut sinken, hegen keine Hoffnung. "Wir Ostfriesen glauben, daß der Nationalsozialismus erledigt wird. Daran haben sich die Kölner schließlich aufgerichtet. Ohne Hoffnung kann man im Lager nicht überstehen".
Ahlers sagt, er habe noch Glück gehabt: "In Börgermoor sind wir bewahrt geblieben vor dem, was in Esterwegen geschehen ist: Mord und Totschlag". Doch schlimm genug ist es auch in Börgermoor. Wer in die berüchtigte Zelle muß, verläßt sie schwer zerschunden wieder. Ahlers sieht, wie der Jude Jakob Jung aus Weener mit "schwarz und blau geschlagenem Kopf" wieder nach draußen kommt.
Ahlers entgeht der Zelle nur knapp mit Glück. Als bei ihm ein paar Krümel Tabak in der Wäsche gefunden werden - rauchen dürfen die Häftlinge nur jeden zweiten, dritten Sonntag nach Laune des Kommandanten - steht ihm der bittere Gang bevor. Doch Wunder: "Zwei SS-Leute kommen und sagen der Kommandant sehe diesmal von einer Bestrafung ab". Ahlers sagt, er habe beten gelernt im KZ. Seitdem bekennt er sich als entschiedener Christ.
Im KZ reden die Häftlinge viel über Politik, sind es doch vorwiegend politische Häftlinge. Zimmergenosse von Ahlers ist Friedrich Ebert, der Sohn des ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert: "Ein Mann voller Charakter, ein Sozialdemokrat durch und durch." Mit Ebert und vielen anderen ist sich Ahlers einig, daß "es niemals wieder passieren darf, daß die Arbeiterschaft sich zerfleischt". Ahlers heute: "Die SED ist damals praktisch im Lager gegründet worden". Nach dem Krieg avanciert Ebert zum Oberbürgermeister von Ost-Berlin.
Doch die scharfe Trennung zwischen SPD und KPD, so alt wie die Spaltung und seither durch beiderseitige Abgrenzungsbeschlüsse immer wieder erneuert, kann selbst von der gemeinsamen KZ-Marter nicht aufgehoben werden. Ahlers begreift es noch heute nicht, wie sogar in Börgermoor der prominente SPD-Reichstagsabgeordnete Ernst Heilmann und der KP-Abgeordnete Adler zum Ergötzen der SS kontrovers diskutieren. Heilmann weist jede Zusammenarbeit mit der KP zurück.
Im Oktober 1933 darf Ahlers nach Hause, wo Frau und elf Kinder auf ihn warten. Das Leben ist nicht nur materiell schwer. Im Umgang mit anderen Leuten muß Ahlers "immer Vorsicht" walten lassen, "immer Abstand wahren".
Er hat Grund zur Angst, wieder ins Lager gebracht zu werden. Wenn er im Radio Auslandssender hört, deckt er das Gerät mit Decken und Kissen zu, damit kein Laut nach draußen dringt. Seine Frau harkt jeden Abend unter den Fenstern: "Morgens konnten wir Spuren sehen".
Eines Tages provozieren ihn die Nazis und hängen Wahlplakate mit Reichsminister Dr. Robert Ley und anderen NS-Größen an seine Hauswand. Ahlers reagiert, aber anders als erwartet. Er schmückt die Porträts mit Tannengrün.
Die Nazis piesacken ihn auch mit schlimmeren Methoden. Kurzfristig schicken sie ihn als Vorarbeiter zu einer Tiefbaustelle nach Hohegaste, wo erst 30, dann 60 Juden vorwiegend aus Österreich, aber auch einige aus Leer, zwangsarbeiten müssen. Der Verfolgte beaufsichtigt die Verfolgten unter den Augen der SS.
"Die konnten keinen Spaten richtig anfassen, mußten außerdem schwere Feldgleise tragen, hatten kaum noch Haut an den Händen". Ahlers bringt ihnen bei, wie man mit dem Spaten umgeht und wie man gemeinsam schwere Last schleppt, ohne sich die Hände beim Absetzen zu quetschen. Die österreichischen Juden behalten Ahlers in guter Erinnerung. Noch am 16. Mai 1972 bedankt sich deren Mittelsmann, der Schauspieler Professor Eduard Sekler, in einem Brief bei Ahlers. Einige Jahre später teilt ihm das "Theater in der Josefsstadt" aus Wien mit, daß Sekler am 15. November 1976 als 96jähriger gestorben und auf dem Sieveringer Friedhof beigesetzt worden ist.
Widerstand? "Das war schwierig", sagt Ahlers, "es gab Grüppchen, die aber meistens voneinander nichts wußten". Hin und wieder macht Ahlers seinem Herzen Luft, auch wenn es politisch nichts ändert. Aber der Mensch braucht so etwas.: Auf dem "Knotenpunkt" in Möhlenwarf, wo sich zwei vielbefahrene Straßen kreuzen, malt Ahlers nachts mit schwer zu entfernender Farbe ein großes Hakenkreuz. An die vier Enden schreibt er die Worte: "Mord, Lüge, Krieg, Betrug". Die Nazis verdächtigen ihn als Täter, weisen es ihm aber nicht nach.
Wider den Stachel löckt auch seine Frau. "Die Nazis wollten mir das Mutterkreuz geben für meine elf Kinder. Ich habe es abgelehnt.
In seinem Urteil über die ihm bekannten Nazis ist Ahlers zurückhaltend: "Viele mögen es bereuen". Andererseits verschweigt er nicht, daß oft "aus normalen Menschen gefährliche Menschen geworden sind: "Ich mußte Kriegsgefangene auf der Baustelle vor denen in Schutz nehmen".
Auch daß seine Kinder in der Schule wegen der politischen Einstellung ihres Vater leiden müssen, schmerzt ihn noch heute. Das sitzt tief. Und es erklärt auch, warum es nicht zuletzt auch die Kinder sind, die den Vater heute davon abhalten, sich in diesem Zeitungsartikel mit dem richtigen Namen nennen zu lassen.
Bis zu seinem 60. Lebensjahr erhält Ahlers für die KZ-Haft von der Bundesrepublik von 70 Mark, seine Frau von 8,75 Mark. Nach dem 60. Lebensjahr automatisch die doppelte Summe. "Die Rente ist sonst nicht erhöht worden". Andererseits: "Die damals die Schutzhaft angeordnet und die Dokumente unterschrieben haben, kassieren heute die dicken Pensionen". Das will Ahlers nicht in den Kopf.
"Als es zu Ende war, wurden nicht die großen Nazis verhaftet, oder wenn doch, bald wieder freigelassen. Aber die kleinen Mitläufer mußten dran glauben. Die englische Besatzungsmacht wollte lieber einen Nazi in einem Amt als einen Linken".
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Da die Nazis sich offiziell als "Arbeiterpartei" bezeichneten, bemächtigten sie sich selbstverständlich des 1. Mai, des internationalen Kampftages der Arbeiter. Sie erheben den Tag geschickt zum Staatsfeiertag der Arbeit, zum bezahlten Feiertag. Als äußeres Zeichen finden überall große Umzüge statt.
Wilhelmine Siefkes erlebt den Umzug in Leer an der Bremer Straße: "Schier endlos war er - wer hätte da zu fehlen gewagt?"
Sie hört eine Gruppe Primaner schon von weitem singen "Haut die Juden mit dem Schädel an die Wand ..." und "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt ..." Vor Hermann Tempels Wohnung klingt es: "Dem Hermann Tempel haben wir's geschworen, dem Hermann Tempel brechen wir's Genick! Vielleicht ist er schon morgen eine Leiche - dann hängen wir ihn an die höchste Eiche".
Einen Tag nach dem 1. Mai verbieten die Nazis die freien Gewerkschaften. Der für das ganze Reich geltende Beschluß wirkt sich im Rheiderland so aus: Die SA nimmt eine umfassende Markenkontrolle bei den Haupt- und Unterzahlstellen vor. In Weener leitet Sturmführer Markus die Aktion. Die (Beitrags-)Marken der Gewerkschaften werden sichergestellt.
Widerstand bleibt erfolglos. Ein Zahlstelleninhaber in Weener, der sich weigert, die in seinem Besitz befindlichen Marken herauszugeben, wird in Haft genommen. Eine Leibesvisitation fördert die Marken zutage.
In Bunde wird Gewerkschaftssekretär Toni Bültena verhaftet. SA beschlagnahmt seinen von der Gewerkschaft gestellten Kraftwagen, befestigt daran einen Hakenkreuz-Wimpel und unternimmt eine Kontrollfahrt durch das Rheiderland.