Bernhard Fokken

Das Rheiderland unter dem Hakenkreuz

(Siebenteilige Serie aus der Rheiderland Zeitung, erschienen im Januar/Februar 1983)

Die Leiden des Juden de Vries in Esterwegen

Teil 5 (04.02.1983)

Pastoren und Bibelforscher wurden von der SS besonders drangsaliert

Der Jude Moritz de Vries lebt heute hochbetagt in den USA. Er schreibt einem Freund in Weener am 12. Januar 1981 einen Brief, in dem er seine Erlebnisse im KZ Esterwegen schildert. Diesen Brief veröffentlichen wir in wesentlichen Teilen, wobei zu berücksichtigen ist, daß de Vries schon über 40 Jahre fast ausschließlich Englisch spricht:

"Esterwegen werde ich niemals, solange ich lebe, vergessen. Nun habe ich vor, endlich nach 46 Jahren Dir die Zustände im KZ Esterwegen zu beschreiben. Da ich in Gegenwart meiner Frau, welche fünf Jahre KZ und Auschwitz überlebt hat, nicht darüber reden darf, habe ich vieles vergessen, aber in schlaflosen Nächten denke ich an die Greueltaten des SS im Lager Esterwegen 1935.

Nun will ich zunächst schreiben, warum man mich 1935 in Schutzhaft genommen und ins Lager Esterwegen gebracht hat. Auf meinem Grundstück Hindenburgstraße hat man einen Stürmerkasten ("Der Stürmer" war die übelste antisemitische Zeitung, die von der NSDAP herausgegeben wurde. ">webmaster) aufgestellt und geschrieben: "Wer noch beim Juden kauft, wird öffentlich bekannt gemacht werden".

Mein Bruder Daniel und ich führten eine erstklassige Fleischerei und konnten durch alle Schikanen der Nazis nicht zu Fall gebracht werden. So hat man versucht durch Lüge und Betrug uns kaputt zu machen. Leider haben wir nicht einsehen können, was die Nazis richtig vorhatten. Wir haben uns als gute deutsche Staatsbürger gefühlt. Ich war vier Jahre an der Westfront (Eisernes Kreuz). Meine Eltern und Großeltern sind in Ostfriesland geboren und wir konnten nicht begreifen, daß Menschen zu Tieren und Mördern werden konnten.

Nun zur Sache Esterwegen. Mein Verbrechen war, mich über den Stürmerkasten zu beschweren, welchen man auf meinem Grundstück aufgestellt hatte, um die immer noch vielen Kunden von meinem Geschäft fernzuhalten. Die Zeitung brachte zur selben Zeit einen Artikel, daß ein Boykott nicht mehr erlaubt sei. So wurde mir geraten, mich an den Reichswirtschaftsminister zu wenden. Mit Erfolg, der Aushang aus dem Kasten wurde entfernt.

Aber gleichzeitig wurde ich in Schutzhaft genommen und nach dem Konzentrationslager Esterwegen im Moor überwiesen. Warum ich ins KZ kam, erfuhr ich erst dort. Unter Folterungen und Erpressungen mußte ich erklären, daß ich den Stürmerkasten umgeworfen und mich mit falschen Angaben an den Wirtschaftsminister gewandt hätte.

Nun die Behandlungen in dem berüchtigten "Erholungsheim" Esterwegen. Nun muß ich kurz bemerken, daß ich damals vor 45 Jahren 40 Jahre alt, gesund und sehr stark war, eine ruhige Natur hatte und viel Strapazen aushalten konnte dank meiner vierjährigen Militärzeit und weil ich aktiver Turner war. Ich war wie aus Eisen.

Viele dieser gemeinen Kniffe der Bestien, wie ich die SS-Bewacher nennen will, konnte ich aushalten. Doch das Mitleid mit meinen Kameraden, die viel älter waren und keine schwere Arbeit kannten, brachen mir das Herz.

Gleich nach der Einlieferung ging es los. Ein Scharführer, dem ich später viel zu verdanken hatte, mußte mich schikanieren. Er mußte schreien, ich solle mich hinlegen, auf, marsch-marsch, aufstehen und dazwischen hat er gemurmelt :"Ich muß es". Dann wieder hinlegen, rollen, eine Stunde lang. Dann nahm mich der frühere Reichstagsabgeordnete Ernst Heilmann in Empfang. Er tröstete mich und sagte ich bin schon lange hier, du wirst viele angesehene Menschen kennenlernen. Nobelpreisträger Ossietzky, Ebert, Sohn des ehemaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Pastor Niemöller, prominente evangelische Pastoren, Bibelforscher und nicht so viele Juden.

Heilmann kleidete mich um. Ich gab meine Sachen ab und bekam ein paar alte Lumpen, abgelegte Militäranzüge, Strümpfe zu klein und viel zu große Schuhe. Meine Sachen kamen in einen Sack und bekamen meine Nummer. Jetzt war ich nur noch eine Nummer, ein gelbes Band wurde an ein Hosenbund gebunden, ein Zeichen, daß die Sadisten und SS-Bestien wußten, ich sei ein Jude.

Nun kam ich in die Baracke. Der Stubenälteste war ein früherer Kommunist aus Dortmund. Er macht mich ziemlich bange. Es gehe hier toll und unmenschlich zu. In meiner Baracke und Bettnachbar war der Reichstagsabgeordnete Julius Leber aus Lübeck, der später beim Hitler-Attentat mitwirkte und erschossen wurde. Auch Heilmann wurde Jahre später erschossen.

Im Lager spielte ein Menschenleben keine Rolle. Jeden Morgen wurde die Arbeit beim Appell eingeteilt. Unter Fluchen und Schimpfwörtern wurden wir in Gruppen hingestellt, die Gruppe ging ins Moor.

Die "Lieblinge" der SS waren die Pastoren und Bibelforscher. Sie hatten sehr zu leiden, da sie ihre Gesinnung nicht aufgeben wollten. Ich hätte mein Todesurteil unterschrieben, aber die Bibelforscher haben Gott nicht verleugnet und haben sich bei uns nur Respekt verschafft. Sie haben sich schlagen lassen, aber ihre Überzeugung nicht preisgegeben.

Stundenlang mußten sie mit ihren Armen und Händen in die Luft greifen und rufen, wir wollen Gott greifen, aber wir können ihn nicht finden.

Bei der Einteilung der Arbeit wurde eine sogenannte Jauchekolonne aufgestellt. Dafür haben die Pastoren gut gepaßt. Es fehlte noch ein Mann und man rief einen Juden dazu. Das war ich.

Ich kann nun nicht über alle Greueltaten schreiben, da ich doch keine Namen nennen möchte und ich schließlich kein Geschichtsschreiber bin und auch vieles vergessen habe. Aber diese Jauchekolonne ist so menschenunwürdig und gemein. Die zeigt die sadistische und bestialische Gesinnung der SS-Bewachung.

Wir bekamen einen richtigen Jauchewagen. Vier bis sechs Pastoren wurden als Pferde vorgespannt. Ich als das sogenannte Judenschwein oder manchmal noch gemeiner, hatte den besten Posten, da man doch die Geistlichen mehr haßte. Wir mußten alle die Jauche aus der Abortgrube ausscheppen. Wenn der Wagen voll war, ging es los aus dem Lager. Vorm Tor angelangt, mußte ich melden: "Zehn häßliche Vögel bitten durchs Tor gehen zu dürfen".

Der Wachmann ging mit geladenem Gewehr grinsend hinterher. Angelangt am Abladeplatz hat zunächst einer von der SS seine Wut an uns ausgelassen. Die verhaßten Pastoren wurden als Hengste gerufen. Einer mußte sich unter den Ablauf des Wagens stellen. Die ganze Brühe ist über ihn gelaufen. Als der Wagen leer war, mußten wir uns alle hinlegen und in die Jauche rollen. Wir gingen dann halbtot, stinkend ins Lager zurück. Die Touren wurden den ganzen Tag wiederholt.

Nach dem Abend-Appell wurde dann noch exerziert, solange bis viele am Boden liegenblieben. Mit einem dicken Wasserschlauch wurden sie wieder auf die Beine gebracht. Dann wurde geschrieen, in einigen Minuten müsse alles in den Betten liegen und das Licht aus sein. Wenn Licht an sei, werde geschossen.

Manchmal kam die SS in die Baracke, wenn wir gerade eingeschlafen waren. Nach all den Qualen schliefen wir sehr fest. Doch sie warfen uns aus den Betten. Einige Häftlinge wurden verprügelt. Sogar das Stroh wurde aus den Strohsäcken herausgeworfen. Man gab uns eine kurze Zeit, dann mußten die Betten wieder in bester Ordnung sein.

Nun will ich einen Fall von einem russischen Juden erzählen. Die Haare würden mir noch heute zu Berge stehen, wenn ich noch welche hätte. Er hatte durch Antworten, die den Herren Scharführer und Lagerkommandant nicht gefielen, an Gunst verloren. Er sprach auch kein richtiges Deutsch. Er wurde auf einen Bock gespannt, die Hose heruntergezogen, sieben starke SS-Männer, je mit einem Ochsenziemer versehen, gaben einen Schlag. Das Blut spritzte, der arme Kerl schrie wie wahnsinnig und wir mußten alle zusehen. Die Lumpenbande und Sadisten lachten vor Freude. Dann nahm der Kommandant eine Kette und fesselte den armen halbtoten Russen, die Arme herübergezogen nach den Fußgelenken. So wurde er in den Bunker geworfen. Am anderen Morgen brachten sie ihn zurück in die Baracke. Die Ketten waren an Hand- und Fußgelenken durchgeschnitten. Wie ein Wunder hat er es überstanden. Ich werde den Anblick nie vergessen.

Leber fragte mich: "Du kommst doch aus dieser Gegend, weiß denn die Welt nicht, was hier geschieht?"

Eine andere Sache sind die sogenannten Rasseschänder. Wäre die Sache nicht so gemein, müßte man darüber lachen. Wir haben uns manchmal lustig darüber gemacht. Täglich wurden Juden eingeliefert als Rasseschänder. Sie hatten nichts verbrochen. Man hat sie gesehen, daß sie mit einem arischen Mädchen gesprochen haben. Wir konnten nicht begreifen, was ist arisch und nicht arisch. Jesus war auch Jude, und so muß doch jeder von uns von Juden abstammen. Die Pastoren und Bibelforscher (Zeugen Jehovas) wollten es nicht anerkennen. Man hat es böse mit diesen Menschen getrieben.

Die Bewachung hatte kein Mitleid. Es waren richtige Tiere, es ist kaum glaubhaft. Einen schwachen jüdischen Rechtsanwalt aus Hannover kann ich nicht vergessen. Man hatte einen Berg angelegt, unten war ein kleines Wasserloch. Der Anwalt mußte immer den Berg hinaufklettern und dann nach unten ins Wasser rollen, solange bis er liegen blieb.

Nun will ich noch etwas von mir persönlich mitteilen. Wie gesagt, ich war stark, ruhig und habe gewußt, die Bande zufriedenzustellen. Wenn meine Kameraden geweint haben, habe ich zum Trotz gelacht. Ich hatte das Gefühl, man wird mich in meinem Heimatort nicht im Stich lassen, ich werde wieder nach Hause kommen. Ich habe aus Schiffen schwere Steine nach oben befördern müssen, zusammen mit Berufsverbrechern, die abgesondert in Baracken von uns lagen. Gott hat mir beigestanden. Ich habe Arbeit geleistet, daß selbst einige SS-Leute mir zugerufen haben, ich solle abgelöst werden.

Ein junger SS-Mann hat sich mir zu erkennen gegeben und mir zugeflüstert, daß er der Stiefsohn eines meiner Kriegskameraden sei. Ebenso ein Scharführer, der eine Braut in Stapelmoor hatte. Nun bekam ich bis zu meiner Entlassung gute Arbeit. Ich wußte gute Antworten zu geben

Das Rote Kreuz sandte Delegierte. Es wurde so eingerichtet, als wäre es ein Erholungsheim. Fleisch aus der SS-Küche wurde in die Häftlingsküche gebracht. Die richtigen Leute wurden gefragt von der Schweizer Kommission. Als diese fort war, war es wieder beim alten.

Um mich auf die Probe zu stellen, wurde ich immer gefragt: Warum bist Du hier?" Die prompte Antwort: "Ich habe den Stürmerkasten umgeworfen und falsche Angaben gemacht". Dann war ich ein feiner Mann. "Wieviel Mädchen hast Du geschändet?" Die Antwort: "Hundert".

Damals hat man noch nicht richtig die Menschen abgeschlachtet, sondern nur auf der Flucht erschossen. Die Posten rissen bei der Arbeit dem Häftling die Mütze fort und warfen sie über die Fluchtgrenze. Dann mußte man sie wieder holen. Verschüchterte Menschen holten die Mütze, man knallte sie ab, da sie die Grenze überschritten hatten und auf der Flucht erschossen wurden.

Wir holten die Mütze nicht wieder, sondern sagten, wir dürfen die Grenze nicht überschreiten. Man warnte uns vor der Gehorsamsverweigerung, aber wir überschritten die Grenze nicht.

Alles ging im Laufschritt, dabei mußte gesungen werden.

Eines Morgens wurde ich zur Schreibstube gerufen. In meinem Heimatort hatten viele Freunde und alte Kriegskameraden meine Frau beauftragt, den Führer der Gestapo in Wilhelmshaven aufzusuchen, der sofort meine Freilassung beantragte. Am Freitagmorgen öffnete man das Tor für mich und für zehn Bibelforscher. Aber alle zehn wollten nicht unterschreiben, wie gut und angenehm es in Esterwegen gewesen  und daß es verboten sei, über das Lagerleben zu sprechen. Die Bibelforscher mußten zurück ins Lager. Nur ich unterschrieb, denn ich hatte gelernt, was los ist.

Mein Bruder Daniel hatte das Geschäft in guter Ordnung gehalten, jedoch langsam brachten die Nazis fertig, daß ich kapitulieren mußte. Mein Bruder wanderte bald aus in die USA, jedoch meine Register-Nummer beim Konsulat war noch nicht an der Reihe. Ich flüchtete einen Tag vor dem Krieg. Meine Frau und meine drei Kinder konnte ich wegen Kriegsausbruchs nicht mehr erreichen. Sie konnten Deutschland nicht mehr verlassen, wurden später nach Riga geschickt und dort im Wald erschossen. Der Dank des Vaterlandes war mir gewiß.

Jetzt bin ich schon fast 35 Jahre ein amerikanischer Staatsbürger und bin dankbar, ein so gutes Land gefunden zu haben."