Bernhard Fokken

Das Rheiderland unter dem Hakenkreuz

(Siebenteilige Serie aus der Rheiderland Zeitung, erschienen im Januar/Februar 1983)

Kampf gilt der bürgerlichen Gesellschaft

Teil 4 (03.02.1983)

NSDAP nutzt konsequent ihre Mehrheit in Kommunen - Judenverfolgung

In Leer führt die NSDAP eine verleumderische Kampagne gegen Bürgermeister Dr. vom Bruch, einen "klugen, lauteren Mann" (W. Siefkes), der zur Wahl die konservative Einheitsliste angeführt hat. Bürgervorsteher Dr. Hoeschen, Chef der NSDAP, bezichtigt ihn öffentlich als "Seele der Pumpwirtschaft". Vom Bruch, dem heute die Rathausbrücke gewidmet ist, hält dem Psycho-Terror nicht stand und erschießt sich.

Der Oberpräsident der Provinz Hannover setzt den nationalsozialistischen Kreisleiter Drescher als kommissarischen Bürgermeister in Leer ein. An diesem 29. März sagt NS-Führer Dr. Hoeschen: "Der Kampf in Leer hat nicht nur dem Marxismus, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit gegolten".

Drescher fährt sofort zum Ministerpräsidenten Röver nach Oldenburg. Die Folge: Auch Viehhof-Direktor Dr. Krause gerät in Schutzhaft.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NSDAP in Weener halten an. "Eine Gruppe gerügter und ausgeschlossener Parteimitglieder hatte Drohungen ausgestoßen und Zusammenrottungen versucht. Daraufhin wurden drei der Ausgeschlossenen festgenommen. Bei Hausdurchsuchungen wurden Waffen beschlagnahmt", berichtet Dr. Aeilt Fr. Risius in seinem Buch "Stadt Weener - Beiträge zur Heimatchronik".

"Nach Klärung der Streitfrage sollten die inhaftierten Nationalsozialisten am 8. Mai 1933 aus dem Gefängnis in Weener entlassen werden. Zum Zeitpunkt ihrer Entlassung versammelten sich unter den Fenstern des Gefängnisses auf dem Alten Friedhof mit den Inhaftierten Sympathisierende so zahlreich, daß die Polizei Verstärkungen aus Wilhelmshaven anfordern mußte. Der NSDAP-Gauleiter Röver kam selbst aus Oldenburg nach Weener und nannte die Inhaftierung der drei Parteigenossen 'einen bedauerlichen Mißgriff'. Um ähnliche Vorkommnisse zu unterbinden, löste er die Ortsgruppe Weener der NSDAP auf und unterstellte ihre Mitglieder der Ortsgruppe Leer. Diese Anordnung wurde indes schon am darauffolgenden Tage wieder aufgehoben, und alle Mitglieder der Kreisleitung Weener wurden wieder in ihre Ämter eingesetzt".

Im Rathaus übernimmt die NSDAP rigoros das Regiment, duldet nur noch Parteigenossen. Dr. Risius: "Bald darauf wurden die Beamten der Stadtverwaltung Weener 'unter die Lupe genommen'. Im Rathaussaal angetreten, hatte jeder das Formular 'Beitrittserklärung zur NSDAP' auszufüllen. Der seit 1925 amtierende Bürgermeister Werner wurde zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Als sein Nachfolger wurde Enno Klinkenborg aus Dorenborg kommissarisch eingesetzt".

Die konstituierende Sitzung des Stadtrates Weener Anfang April im Rathaussaal findet regen Zulauf. Schwarz-weiß-rote Fahnen, Hakenkreuzbanner, reichlich Grün und Blumen geben dem Saal ein ungewohntes Gepräge.

In geschlossenem Zug marschiert die uniformierte SA ein und nimmt an der Seitenwand Aufstellung. Kurz darauf hält die nationalsozialistische Fraktion im Braunhemd ihren Einzug, mit lebhaften Heilrufen begrüßt. Zu Beginn bringt die SA ein dreifaches Sieg-Heil auf Hitler aus, dem das Horst-Wessel-Lied folgt ("Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen").

Am 7. April tritt der neugewählte Kreistag in Leer zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Es weht ein anderer Wind, die Nationalsozialisten führen das große Wort.

Der Vorsitzer des Kreistages, Landrat Dr. Hermann Conring, begrüßt die Abgeordneten: "Die Regierung der nationalen Erhebung, geführt von dem Kanzler der großen deutschen Freiheitsbewegung, Adolf Hitler, und gesegnet von dem Vater des Vaterlandes, dem Generalfeldmarschall von Hindenburg, hat das große Werk der Wiederaufrichtung Deutschlands entschlossen in die Hände genommen. Der deutsche Staat hat sich damit endgültig zurückgefunden zu den ewig gesunden Lebenskräften, aus denen er einst nach harten Kämpfen erwachsen ist.

Vorüber sind die Zeiten des demokratisch-parlamentarischen Parteienstaates, eines Staatssystems, welches den ungebaren Kräften unseres Volkstums nicht entsprach, dessen Unfruchtbarkeit für den staatspolitischen Wiederaufbau unseres Volkes im letzten Jahrzehnt praktisch unter Beweis gestellt ist".

Nach Conring spricht der Fraktionsführer der NSDAP, Jacques B. Groeneveld. Er läßt keinen Zweifel daran, wie seine Partei ihre Mehrheit nutzen will: "Nachdem wir Nationalsozialisten die stärkste Fraktion geworden sind, betone ich, daß wir diese Stärke nach jeder Richtung ausüben werden. Das können wir in dem Bewußtsein tun, daß wir uns diese Stärke in jahrelangen harten Kämpfen errungen haben, aber auch deshalb, weil wir nationalsozialistisch empfinden. Alle, die uns bei dieser Aufbauarbeit den Rücken stärken und mithelfen wollen, sollen uns angenehm sein. Grundsätzlich müssen wir aber fordern, daß wir in allem die Führung haben und nicht unsere Gegner".

Die Nazis machten vor Schultoren nicht halt. Mittelschulrektor Martin Stellmann (Deutsche Volkspartei) wird von der Aufsichtsbehörde bedrängt und muß sich von NS-Lehrern anpöbeln lassen. Lehrer Friedrich Geerdes, ein Sozialdemokrat und in späteren Jahren Bürgermeister der Stadt Leer, muß diese verlassen. Er gehört zum Kreis von Wilhelmine Siefkes, Thelemann und Tempel.

Die rechte Gesinnung hingegen vertreten Englisch-Fachlehrer der Mittelschule Weener. Sie lassen die 1. Klasse ihren englischen Korrespondenz-Partnern einen Brief schreiben: "Die deutsche Jugend steht geschlossen hinter ihren Führern, dem Reichspräsidenten von Hindenburg und dem Reichskanzler Adolf Hitler. Ich hoffe, daß die englische Jugend unsere deutschen Knaben und Mädchen im Kampf für Wahrheit und Recht unterstützt".

Hauptlehrer Blikslager kleidet seine Erkenntnis bei einer Schulfeier in Möhlenwarf in diese Worte. "Immer war ein Führer nötig, der das Volk zu gewaltiger Tat emporriß. So war es einst, und so erleben wir es heute wieder".

Während einer Versammlung des NS-Lehrerbundes bei Alfken in Weener tritt die Lehrerschaft des Altkreises Weener fast geschlossen der NSDAP bei. Kreisleiter Budde und Bezirksleiter Lührmann regeln die Formalitäten.

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Am 28. März ruft Hitler seine Gefolgsleute zum Boykott jüdischer Geschäftsleute auf. Doch solange warten diese gar nicht. Schon am 11. März postiert sich erstmals SA vor dem Kaufhaus Karstadt in Leer mit Schildern "Kauft nicht in jüdischen Kaufhäusern". "Ein großer Teil der Kunden, offenbar linksgerichtete Kreise, betreten dennoch das Kaufhaus, andere kehren um", meldet die Rheiderland-Zeitung.

Am 29. März beschlagnahmt die SA in Leer die Schächtmesser der Juden und verbrennt sie auf einem großen Scheiterhaufen. Der Student Buscher hält eine Ansprache. In Emden tobt die SA durch die Stadt. Jüdische Kaufleute schließen verschreckt ihre Geschäfte. Polizeiinspektor Kannegieter geht den Machthabern nicht energisch genug zur Hand und wird amtsenthoben.

Am 29. März kassiert die SA auch in Weener die Schächtmesser der Juden und verbrennt sie abends auf dem Marktplatz im Beisein einer großen Zuschauermenge. Sturmführer Markus erläutert die Beweggründe: Es handele sich um nationalsozialistische Gegenmaßnahmen gegen die Greuelpropaganda und den Boykott deutscher Waren im Ausland. SA ordnet in Weener die Schließung von jüdischen Geschäften an.

Auf dem wöchentlichen Viehmarkt in Weener ist jetzt eine Stelle reserviert, die durch ein Schild gekennzeichnet ist "Platz für Juden". Dort können die jüdischen Viehhändler ihr Vieh anbieten. Doch wird dieser Platz so überwacht, daß sich niemand an diese Ecke heranwagt. Ähnlich sieht es auf dem Viehmarkt in Leer aus, dem größten Markt dieser Art. Dort ist jetzt ein Teil für Juden abgezäunt.

Über Judenverfolgung wissen die "Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei 1934-1940", die im Untergrund entstehen, aus Ostfriesland noch mehr zu berichten: "Vor einigen Tagen kam ein jüdischer Reisender nach Borkum. Der Mann stammte aus Eisenach. In wenigen Stunden hatte die SA einen Umzug organisiert, der den Juden aus dem Hause holte und durch den Badeort trieb, bis ihn die Polizei verhaftete".

"In Jemgum erschien am Freitag, den 20. September 1935, vor dem Hause eines jüdischen Schlachters ein Möbelwagen. Nachfragen ergaben, daß die Möbel dem Schwiegersohn des Schlachters gehörten, der aus einer anderen Stadt in das Haus seines Schwiegervaters übersiedeln wollte. Innerhalb kurzer Zeit wurde der gesamte Nazianhang dieses Dorfes unter Führung der SA auf die Beine gebracht, vor dem Hause des Schlachters zusammengeholt und durch die SA zur Demonstration veranlaßt.

Nach einem längeren Radau vor dem Hause, wobei sämtliche Fensterscheiben eingeworfen wurden, erschien der Bürgermeister des Ortes und forderte die Parteigenossen auf, sich ruhig zu verhalten, bis er mit dem Schlachter gesprochen hätte. Er begab sich in die Wohnung des jüdischen Schlachters und kam nach kurzer Zeit zurück. Darauf erklärte er seinen wartenden Freunden, daß dem Schwiegersohn verboten worden sei, hier in Jemgum bei seinem Schwiegervater Wohnung zu nehmen. Der Mann habe versprochen, noch am gleichen Abend weiter zu ziehen. Lautes Gejohle und Beifallsrufe beantworteten die Ausführungen des Bürgermeisters.

Die Demonstranten warteten, bis die Polizei erschien und den Schwiegersohn aus dem Haus holte, ihn in die Mitte nahm und zur Emsfähre brachte. Einige hundert Demonstranten begleiteten den Zug bis zur Fähre. Lautes Schimpfen auf den Juden und polizeiliche Verwarnungen an den aus dem Ort geworfenen bildeten den Abschluß dieses Falles".

Die Juden haben nichts mehr zu lachen. Ein Großteil ihrer alten Kunden meidet die Geschäfte, nur wenige beweisen Zivilcourage und kaufen weiter. Zu ihnen zählt Pastor Gerd Hesse-Goeman in Weener, der unentwegt weiter bei einem jüdischen Schlachter seine Wurst kauft. Von ihm heißt es: "Der wird eines Tages noch im Lager enden".

Wie es im Lager aussieht, weiß auch Rektor Martin Stellmann. In seinen "Erinnerungen eines Schulleiters" berichtet er: "Was da los war, erfuhr ich vom Vater eines Schülers aus Bunde, der aus dem KZ Oranienburg beurlaubt war. Ein Bauer aus dem Rheiderland zeigte Fotos, wie man im KZ Esterwegen Juden durch die Kloake trieb und dann mit dem Wasserschlauch abspritzte. Zu den Moorsoldaten, wie man die Häftlinge nannte, gehörte auch Moritz de Vries, Inhaber eines renommierten Fleischerladens und letzter Synagogenvorsteher" in Weener.