Bernhard Fokken

Das Rheiderland unter dem Hakenkreuz

(Siebenteilige Serie aus der Rheiderland Zeitung, erschienen im Januar/Februar 1983)

"Hinaus Volksgenossen in den letzten Wahlkampf, den größten"

Teil 2 (01.02.1983)

Die NSDAP drückt die demokratischen Parteien rigoros an die Wand

Ein Radio besitzt er noch nicht, die Zeit des Volksempfängers steht noch bevor: So ist der 30. Januar auch für den heute 86jährigen Jan Ahlers "ein Tag wie jeder andere" (Anmerkung: Der Name Jan Ahlers ist ein Pseudonym. Der alte Mann, aber seine ebenfalls betagte Ehefrau und seine Kinder befürchten erneut Repression, wenn der richtige Name hier genannt wird). Ahlers ist damals Kommunist, gehört dem Kreistag des 1932 aufgelösten Kreises Weener an. Für ihn brechen am 30. Januar 1933 zwölf schlimme Jahre an.

In den Tagen vor der März-Wahl liegt Ahlers im Krankenhaus Rheiderland. Er erinnert sich: "Am Sonnabend vorher sangen die Schwestern noch 'Harre meine Seele'. Am Sonnabend vor dem 5. März sang keine mehr. Alle Schwestern waren verschwunden zu einer Nazi-Versammlung bei Alfken vor der 'Memmingaburg'. Menschen, die vorher einen klaren Verstand hatten, kannte man plötzlich nicht wieder".

Ahlers, als Kind armer Leute in Not und Armut aufgewachsen, kommt 1918 mit Kommunisten zusammen, engagiert sich für die KPD, zählt zu den drei KP-Abgeordneten (von 20) im Kreistag Weener.

"Um 1930 herum wuchsen die Nazis allmählich zu einer Macht". Ernst Thälmanns Vorhersage "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler!" hat Ahlers noch heute vor Ohren. Den Sozialdemokraten "kann er bis heute nicht verzeihen", daß sie gegen ihr besseres Wissen nicht gemeinsam mit der KPD den aufkommenden Nationalsozialismus bekämpft hätten. Ihn verfolgt bis auf seine alten Tage, an denen er für keine der Parteien in der Bundesrepublik eine Neigung verspürt und auch dem real existierenden Kommunismus östlicher Prägung nichts abgewinnen kann, das Trauma der zersplitterten Linken, der zersplitterten Arbeiterschaft.

Diese Ansicht teilt der heutige SPD-Vorsitzer Willy Brandt, der im KZ Dachau im November 1982 vor der DGB-Jugend Bayern sagt: "Man wird ohne Rechthaberei sagen dürfen, daß die Führer der damaligen Arbeiterparteien die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Die Vorstände der Gewerkschaften begaben sich auf den gefährlichen Weg, ihre Organisationen durch gewisse Anpassung retten zu wollen".

Die Zeichen der Zeit stehen spätestens nach der Machtergreifung auf Sturm. Die Nazis schwelgen und feiern, überall Kundgebungen. Am 4. Februar taucht erstmals in einer Anzeige in der Rheiderland-Zeitung über eine NS-Kundgebung im Hinrichs'schen Saal in Stapelmoor, wo Parteigenosse (Pg) Büsing, Oldenburg, über "Adolf Hitler Reichskanzler - was nun?" spricht, der Zusatz auf: "Juden haben keinen Zutritt".

Zu einem "eindrucksvollen Bekenntnis zum neuen Kabinett der nationalen Konzentration" gerät eine NS-Kundgebung in Bunde. Die SA zieht, begleitet von der SA-Kapelle Stapelmoor und einer Gruppe Lampion-Träger, durch den Flecken, "ein Bild militärisch disziplinierter Jugend in strammen Gleichschritt und tadelloser Marschordnung", wie ein Beobachter notiert. Anschließend der "Deutsche Abend" in der "Blinke", wo NS-Kreisleiter Dr. Bauer als Hausherr auftritt. Gauinspektor Jaques Groeneveld stellt einen "gewaltigen Unterschied" zu der Zeit vor einigen Jahren fest, "als die NSDAP mit ihrer ersten größeren Kundgebung in diesem Saal an die Öffentlichkeit getreten ist und die damals noch kleine SA, umheult von dem Gejohle der roten Gegner durch Bunde marschierte, und heute, dem Tag der Erfüllung".

Am Wochenende finden auch in Stapelmoor und Jemgum Kundgebungen der SA und NSDAP statt. In Leer hört der Verein junger Kaufleute im Saal von Jonas Dr. Hans Grimm "Volk ohne Raum". Zur Ehre des Vereins sei aber erwähnt, daß der Raum lückenhaft besetzt ist.

Am 5. Februar feiert der sozialdemokratische Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Weener bei Plaatje am Hafen (heute "Zur Kogge") sein (letztes) Winterfest.

Zwei Tage vorher teilt der Pg. Pundt aus Weener der NSDAP-Ortsgruppe Wymeer-Boen mit, wie er die politische Lage beurteilt: "14 Jahre marxistisches System brachte uns das Chaos", "Verrat der SPD", "scheinheiliges Zentrum", "Die SPD ist es, die 14 Jahre lang diktatorisch herrschte, ja das gesamte Volk vernichtete". Dann ein wahrer Satz: "Wir aber Volksgenossen ziehen hinaus in den letzten Wahlkampf, den größten, der da kommen wird".

In diesem Wahlkampf vergeht vor allem den linken Parteien Hören und Sehen. In Norden finden Haussuchungen bei Funktionären und führenden Vertretern der KPD statt. Gesucht werden Flugblätter, auf denen zum Streik aufgerufen wird. Das ist der Anfang.

Die Sozialdemokraten bleiben nicht ungeschoren. In ihre Versammlungen ziehen SA-Leute, säumen die Zuschauerreihen, drohen mit ihren Karabiner-Haken. Teilnehmer einer Demonstration der sozialdemokratischen Eisernen Front in Emden werden wegen "Beleidigung des Reichskanzlers" festgenommen.

"Die SPD steht geschlossener denn je da", macht der Chefredakteur des "Volksboten", Alfred Mozer, 800 Sozialdemokraten am 12. Februar während einer Kundgebung der Eisernen Front in Leer auf dem Marktplatz noch einmal Mut. Dort spricht auch Louis Thelemann.

Die SPD hat schon verloren, aber sie mobilisiert noch einmal alle Reserven. Zwischen 17. und 20. Februar hält sie im Rheiderland in Stapelmoor (mit MdR Hermann Tempel), in Weener (mit W. Bubert, Emden), in Holthusen (mit Alfred Mozer), in Ditzumerverlaat (mit Louis Thelemann) und in Bunde (mit Alfred Mozer) fünf Versammlungen ab.

In Ditzumerverlaat kursiert das Gerücht, der Landrat habe die Kundgebung verboten. Doch es erweist sich als falsch. Aber für ausgeschlossen hält so etwas keiner mehr. Die Reichsbanner-Jugend spielt in der Gaststätte Harenberg das Stück "Hannemann wird Freiheitsbauer", die erwachsenen Laienspieler führen das Lustspiel "Die Schönheitskonkurrenz" auf.

Am 16. Februar verabschiedet sich die SPD in Leer im überfüllten Jonas-Saal (Tivoli) für ein Dutzend Jahre von der politischen Bühne. Wilhelmine Siefkes ist dabei: "Dann kam die letzte SPD-Versammlung vor der Wahl mit Hermann Tempel als Redner. Er galt als einer der besten Redner in Nordwestdeutschland; was er sagte war mitreißend, klar, nie ohne Niveau. Deshalb war er auch bei den Nazis einer der Bestgehaßten; das zeigte sich an diesem Abend in erschreckender Weise. Ein Massenbesuch setzte ein, anderthalbtausend Menschen wollten in den großen Tivolisaal - heute ein Discounthaus an der Jahnstraße -; er mußte vorzeitig polizeilich geschlossen werden, so daß Ungezählte keinen Einlaß  bekamen. Ein Lastwagen voller Nazis wollte die Versammlung sprengen, aber auch sie mußten draußen bleiben. Dafür zogen etwa hundert Rowdies vor Tempels Wohnung, um ihm das Fortgehen unmöglich zu machen, aber Polizei und Reichsbanner waren stärker; unter ihrem Schutz und dem Gejohle der anderen wurde er zum Lokal geleitet, ein beispielloser Vorgang in Leer!"

Die NS-Pressestelle greift den Leeraner Polizeikommissar Hieronymus scharf an. Dieser Beamte ist zwar deutsch-national, hat aber mit den Nazis nichts im Sinn. Er warnt später Thelemann und Tempel, wenn die Nazis diese festnehmen oder verhören wollen.

Von einem ungehinderten Wahlkampf kann keine Rede sein. Fehlt die SA, springt die Polizei in die Bresche: Während einer SPD-Versammlung in Bunde im Gasthof van der Berg verwarnt, so die Rheiderland-Zeitung vom 21. Februar, "der anwesende Landjäger den Redner (Alfred Mozer) wegen einiger scharfer Äußerungen". Zu gleicher Zeit tagt die NS-Ortsgruppe Bunde in der "Blinke". Statt des vorgesehenen Redners Schwiebert aus Hannover referiert Pg. Hildebrandt aus Weener. Ortsgruppenführer Beenen schließt die Versammlung mit der Aufforderung: "Jede Stimme der Liste I".

Am 21. Februar sucht die Polizei in Weener in Häusern von Kommunisten nach Druckschriften und findet auch welche.

In diese Woche rühren sich auch andere Parteien: Am 23. Februar kommt ihr Spitzenkandidat Fregattenkapitän Hintzmann, Bremen, zur Kampffront Schwarz-Weiß-Rot zu Alfken nach Weener. Am selben Tag versammelt sich der Christlich-Soziale Volksdienst in der "Waage" in Weener. Bei Plaatje am Hafen lautet am 25. Februar die Parole der NS-Ortsgruppe Weener: "Mittelstand heraus". Der Vizepräsident des Nordwestdeutschen Handwerkerbundes, Mitglied des Preußischen Landtags, der Fleischerobermeister und Pg. Schmidt aus Nordstemmen, preist die Politik des Führers.

"Jungs hollt fast" hält die Eiserne Front am 26. Februar dagegen, als sich ihre Gruppen aus dem ganzen Rheiderland zu einem Umzug in Weener und zu zwei Kundgebungen bei Plaatje und Fritsche am Hafen sammeln.

Die Nationalsozialistische Kampfbühne sieht bei ihren Aufführungen in Bunde und Jemgum am 27. und 28. Februar das Ziel nahe vor Augen. "Die letzte Schicht" heißt das Schauspiel in drei Akten, das sich Pg. Hans Trautner ausgedacht hat.

Am 28. Februar erläßt die Reichsregierung die Notverordnung zum Schutze von Staat und Volk. Sie beschränkt dadurch die bürgerlichen Grundrechte wie persönliche Freiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit, kann Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen auch außerhalb der gesetzlichen Grenze vornehmen.

Die Verordnung wirkt sofort. Am selben Tag stehen "Maßnahmen" gegen SPD und KPD in Leer, Emden und Aurich an. Polizei durchsucht Häuser, schließt Parteibüros, nimmt linke Funktionäre fest, versiegelt die Druck- und Setzmaschinen des "Volksboten" in Emden, verbietet die "Norder Nachrichten" wegen eines Artikels "Freiheit, die ich meine". Die SA erhält teilweise den Status einer Hilfspolizei.

In Aurich bittet der demokratische Bürgermeister Dr. Anklam um seine Amtsenthebung. In Leer trägt ein Reichsbanner-Mann vor dem Arbeitsamt ein NS-Abzeichen. Darin sieht ein Nazi eine "Verächtlichmachung der Hitlerbewegung" und fordert ihn auf, das Abzeichen abzunehmen. Es kommt zu Auseinandersetzungen und zu einem Menschenauflauf. "Die Polizei nahm den Reichsbanner-Mann fest", bericht die Rheiderland-Zeitung.

Augenfällig die Blauäugigkeit demokratischer Parteien, beispielsweise des Christlich-Sozialen Volksdienstes. Noch am 3. März propagiert Pastor Heinrich Oltmann, Loga, kurze Zeit später Vorsitzer der Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche in der Provinz Hannover, während einer Versammlung dieser Partei in der "Waage" in Bunde, wo er zum Thema "Der evangelische Christ in unserer politischen Entscheidung" spricht, eine eigenständige Linie der liberalen. Ehrenwert und gutgläubig, aber politisch falsch, grenzt er sich von "SPD und KPD als Marxisten" ab. Die NSDAP bezeichnet er mutig als die Partei, "die aus dem Glauben an Volkstum, Rase und Blut ihre Botschaft schöpft, der sich alles unterordnen" zu habe.

Geradezu halsbrecherisch der Drahtseilakt der Deutschen Volkspartei, der man anmerkt, daß Stresemann tot ist. In einem Beitrag zur Reichstagswahl schreibt am 4. März als Vertreter der Volkspartei der Mittelschulrektor Martin Stellmann, Weener, in der Rheiderland-Zeitung: "Wir in der Deutschen Volkspartei stehen hinter der Regierung Hitler-Papen. Unabhängig und ungebunden, aus selbstgewählter Willensentscheidung. Und mit Freuden sehen wir den nationalen Zug, der durch die Reihen geht ... Wir anerkennen in der Hitler-Bewegung das Soziale. Das Sozialistische lehnen wir ab ... Wir sind eine liberale Partei. Da gilt für uns der Grundsatz echter Freiheit. Nicht in der Auffassung des Manchestertums: Jeder kann tun, was er will. Nein: Wir wollen die sittlich gebundene Freiheit".

Am selben Tag will der Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel in Bunde während einer SPD-Versammlung sprechen. Tempel erhält Redeverbot, die Versammlung darf nicht stattfinden.

Am selben Tag vereidigt Landrat Dr. Hermann Conring die Hilfspolizei.

Am selben Tag wertet NSDAP-Kreisleiter Dr. Bauer in Bunde während einer Kundgebung seiner Partei das Verbrennen eines Reisighaufens als eine symbolische politische Handlung.

Einen Tag darauf, am 5. März, wählen die Deutschen die Nazis triumphal in den Reichstag. Das Ergebnis im Rheiderland:

NSDAP6051 Stimmen
SPD2955 Stimmen
Christlich-Sozialer Volksdienst909 Stimmen
KPD790 Stimmen
Schwarz-Weiß-Rot734 Stimmen
Deutsche Volkspartei124 Stimmen
Zentrum122 Stimmen
Staatspartei108 Stimmen
Deutsch-Hannoversche Partei6 Stimmen
Deutsche Bauernpartei1 Stimme

Am nächsten Vormittag hissen vier SS-Männer in Weener vor dem Amtsgericht, dem Finanzamt und dem Rathaus die Hakenkreuzfahne, in Ihrhove und umliegenden Orten klingt feierliches Glockengeläut von den Kirchen. Daß die Kirche nicht abseits steht, beweist nicht nur fast täglich der Auricher Pastor Meyer: Bei einem SA-Aufmarsch am 18. Februar in Weener hält Pastor Behrends, Bunde, auf dem Marktplatz den Feldgottesdienst, dem sich ein SA-Werbeabend bei Plaatje anschließt. Sturmführer Markus redet.

Einige evangelisch-reformierte Kirchengemeinden versuchen behutsam gegenzusteuern, aber sie sind wohl gefangen im jahrhundertealten unkritischen Verhältnis zwischen Klerus und Obrigkeit, das eine klare Gegenposition erschwert, sofern sie überhaupt gewollt ist. Immerhin, die Rheiderland-Zeitung berichtet auffallend häufig über kirchliche Veranstaltungen, so Mitte Februar über eine Bibelwoche für Männer und Jünglinge in Bunde, in der unverblümt von Irrlehrern die Rede ist: "Millionen stehen heute dem innersten Wesen nach so wie der Pharisäer Paulus. Sie wollen mit eigener Kraft den Himmel erstürmen. So müssen alle, die aus eigener Kraft, Selbstgerechtigkeit und guten Werken etwas erreichen wollen, zuschanden werden."

Die Nazis ficht dies jedoch nicht an. Am 8. März zieht eine SS-Gruppe die Hakenkreuzfahne auf dem Gemeindebüro Holthusen hoch und bringt die schwarz-rot-goldene Fahne nach Weener. Dort wird sie auf dem Platz vor der "Memmingaburg" in Gegenwart einer großen Menschenmenge verbrannt. SS-Führer Pramme erklärt, die Fahne sei dem Volk 1918 aufgezwungen worden und werde abgelehnt. Erst werden Fahnen verbrannt, am 10. Mai Bücher, einige Jahre später Menschen.