Bernhard Fokken

Das Rheiderland unter dem Hakenkreuz

(Siebenteilige Serie aus der Rheiderland Zeitung, erschienen im Januar/Februar 1983)

SA marschiert - Nazis gewinnen die Oberhand

Teil 1 (29. Januar 1983)

Die letzten Wochen vor dem 30. Januar im Rheiderland

Die miese Wirtschaftslage, die schon jahrelang andauert, mangelndes Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Parteien, die sich in der Weimarer Republik nicht durchsetzen können: Ein idealer Nährboden für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die immer mehr von sich reden macht, konsequent und rücksichtslos vorgeht und schließlich am 30. Januar 1933, morgen vor einem halben Jahrhundert, die Macht im Deutschen Reich ergreift, wie es ihr Führer Adolf Hitler nennt.

In jahrelanger Arbeit sind die Nazis ihrem Ziel immer näher gekommen, schließlich in den  letzten Wochen nach vielen Rückschlägen wie von einer Woge hochgespült worden.

Nicht nur in der Hauptstadt und anderen Großstädten herrscht Anfang 1933 politische Hektik. Sie prägt auch das Leben im sonst beschaulichen Ostfriesland. Kaum ein Dorf ohne eine Versammlung oder Kundgebung der NSDAP, die überall mit ihren Ortsgruppen präsent ist. "Deutsche Abende" sind beliebt.

Am 3. Januar 1933 findet ein "Deutscher Abend" der NS-Ortsgruppe Jemgum statt. Die Festrede hält der Parteigenosse Hein Buscher aus Detern, außerdem spricht das Mitglied des preußischen Landtags, der Parteigenosse Jaques Bauermann Groeneveld aus Bunderhee. Die örtliche Sturmabteilung (SA) führt zwei Theaterstücke auf, eine 16köpfige Kapelle begeistert die Gäste mit zackiger Marschmusik.

Am selben Tag ein "Deutscher Abend" in Ditzumerverlaat, wo Ortsgruppenführer Schmidt die Gäste und dieselben Redner begrüßt. Buschers Thema: "Die Rassenfrage, das internationale Judentum und die internationale Hochfinanz". Er sieht "Zerstörer des nichtjüdischen Volkstums" am Werk. Nach den Reden Buschers und Groenevelds sorgt die Kriegervereinskapelle Ditzumerverlaat für Stimmung.

Bereits drei Tage später erneut ein "Deutscher Abend" in Jemgum, "zahlreich besucht", wie die Zeitung meldet. Parteigenosse Buscher vergleicht den Führer "mit einem starken Siegfried, der die Rettung bringt gegen die Mächte des Liberalismus und Marxismus".  Landtagsabgeordneter Groeneveld mahnt, "treu zum Führer zu stehen", der Bläserchor Stapelmoor spielt die Militärmärsche.

Pikante Note eines "Deutschen Abends" am 17. Januar in Ditzum: Die Festrede hält der junge Pastor Meyer aus Aurich, damals ein häufig auftretender Parteiredner der NSDAP.

Festrede, Musik und gemütlicher Teil: Nach diesem Schema verlaufen die "Deutschen Abende" in allen Orten des Rheiderlandes.

Immer massiver tritt die SA auf. Am 4. Januar ist sie es als erste politische Gruppe, die nach Beendigung des zwischen den Reichstags-Parteien geschlossenen "Burgfriedens" in einem Umzug durch die Kreisstadt Leer ihre Macht und Entschlossenheit demonstriert. Der Umzug klingt mit einem Nachtmarsch nach Logabirum aus, an dem 120 SA-Leute teilnehmen. Am 22. Januar marschiert die SA-Standarte Ostfriesland in Leer auf. Kapitän Killinger hält eine Rede vor 2000 SA-Mitgliedern.

Mittlerweile erkennt auch Wilhelmine Siefkes in Leer, heute Ehrenbürgerin der Stadt, die "Vorboten des Nationalsozialismus", wie sie in ihren "Erinnerungen" schreibt. Typisch für viele rechtschaffende, aber politisch naive Bürger dieses Geständnis der niederdeutschen Schriftstellerin: "In den Buchläden stand bereits seit Jahren Hitlers 'Mein Kampf'. Ich hatte noch nicht hingeschaut, mich stieß schon das Gesicht ab, das groß auf dem Umschlag prangte; mir war auch die Zeit dafür zu schade. Es gab ja soviel Arbeit, die Freude machte".

Doch lange dauerte es nicht mehr, bis auch Wilhelmine Siefkes die Freude vergällt wird, die sie im Heimatspiel und im Puppenspiel mit Jugendlichen findet. "Die politischen Sorgen wurden größer. Die Nazis entfachen immer stärker die nationalistischen Leidenschaften. Sie werteten die Demokratie ab, indem sie ihre Vertreter diffamierten und verleumdeten. Die Notstandsgesetze, ursprünglich wohl von manchem um der wirtschaftspolitischen Lage willen gutgeheißen, wurden immer mehr gegen die demokratischen Kräfte eingesetzt".

Der Wandel ist kaum noch aufzuhalten. Es gärt. In Papenburg versammelt sich eine Erwerbslosen-Selbsthilfe auf dem Marktplatz und fordert mehr Unterstützung des Staates für den Kauf von Kartoffeln und Kohlen. Die Unterstützungssätze reichen nicht aus, eine Familie zu ernähren, klagen die Arbeitslosen.

Doch Hitler braucht nicht allein auf das riesige Heer der Arbeitslosen zu bauen. "Fragst Du, wie kam das ganze übers Land, wende Dich an den Mittelstand", reimte vor einigen Jahren ein Kritiker. Wilhelmine Siefkes bestätigt diese Erkenntnis: "Die Nazis wußten geschickt die Bürger aufzuwiegeln, die sich sonst nicht mit Politik befaßten, die Handwerker, Geschäftsleute, ganz allgemein die Steuerzahler. Sie hämmerten ihnen ein, mit ihren Steuergroschen werde Schindluder getrieben, das ganze demokratische Regime im Reich wie in den Ländern und Städten sei korrupt und die wirtschaftliche Not nur Folge einer allgemeinen Mißwirtschaft".

Die Nazis stützten sich auf eine breite Front von sehr engagierten Hilfstruppen, keineswegs nur SA und SS (Schutz-Staffel), die in Weener am 18. Februar gegründet wird. Im Beisein des SS-Oberführers Rodenbücher, Oldenburg, ernennt die SS Weener den Zollsekretär Pramme zu ihrem Führer.

Gut eine Woche nach der Machtergreifung am 30. Januar ruft der Landbund die Bauern zu einer großen Kundgebung nach Aurich. Vorsitzer Dr. Agena, Hagenpolder, sieht in der NSDAP die Rettung der Landwirtschaft. Viel Beifall findet die Rede des Führers des Westfälischen Landbundes, NS-MdL Meinberg. Der zweite Vorsitzer des Ostfriesischen Landbundes, NS-MdL Jaques B. Groeneveld, Bunderhee, bringt eine Entschließung ein, die einstimmig angenommen wird und dazu aufruft, bei den Reichstagswahlen am 5. März "jede Stimme der Nationalen Erhebung" zu geben.

Zwei Tage später in Leer der Bezirkstag Ostfriesland des Verbandes ländlicher Hausfrauenvereine: Freifrau von Bülow begrüßt Regierungspräsident Dr. Bansi, die Landräte Barkhausen und Dr. Conring sowie Geheimrat Kleine. Freifrau von Rheden-Rheden referiert über "Die deutsche Wende und wir Frauen" und nennt den 30. Januar eine "Schicksalswende".

Als treue Vasallinnen ihres Führers zeichnen sich auch die Frauen des Bundes Königin Luise aus.

Politik beherrscht das tägliche Leben, auch in der Kleinstadt Weener. Frei davon bleibt jedoch die 50-Jahr-Feier des Krankenhaus-Vereins im Hotel "Zum Weinberge" am 11. Januar.

Vier Tage danach ein eigentlich unpolitisches Ereignis, das jedoch bald in eine ungeheure polit-propagandistische Richtung gedrängt wird: Im "Weinberg-Saal" läuft erstmals ein Tonfilm. Sein Titel "Das Lied einer Nacht".

Die Nazis verstehen es, das neue Medium für sich einzusetzen. Es dauert nur zwei Wochen, bis im "Weinberg" und im Hotel "Zur Blinke" in Bunde die NSDAP-Ortsgruppen zu Tonfilm-Abenden einladen mit Reden von Hitler und Göring, außerdem Hitlers Deutschlandflug.

Bei kleineren Anlässen genügt die Schallplatte. Als Gebietsführer Hohgräfe am 14. Januar in der "Blinke" die Fahne der Hitler-Jugend (HJ) Bunde weiht, hört der Nachwuchs Reden von Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Andere Töne schlägt die "allseits beliebte" SA-Kapelle Stapelmoor an.

Während die Nazis aus den Landtagswahlen in Lippe am 15. Januar als Gewinner hervorgehen, die SA auf den Straßen und in den Sälen immer frecher wird, sich in Berlin alles auf die Machtergreifung zuspitzt, halten die Sozialdemokraten sich brav an die Spielregeln, kämpfen trotz vorhandenen Potentials (Reichsbanner) nicht, können nicht glauben, was sie vielleicht ahnen.

Am 12. Januar treten in Weener der Magistrat und das Bürgervorsteher-Gremium zusammen. In der Rheiderland-Zeitung steht am nächsten Tag, daß die SPD-Ratsherren Hinderikus Klugkist und B. Tirrel einen Dringlichkeits-Antrag gestellt haben: In Form einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme "wird der Hafen zu Weener wegen drohenden Verfalls einer umfassenden Reparatur unterzogen".

Die SA-Gruppe Bunde unternimmt am 16./17. Januar einen Nachtmarsch nach Weener. Am 20. Januar eröffnet Dr. Wilhelm Glock seines Zeichens Studien-Assessor an der Mittelschule, den ersten öffentlichen Vortragabend der NSDAP-Ortsgruppe Weener. Er spricht selbst über Außenpolitik. "Der Besuch ließ zu wünschen übrig", meldet die Zeitung.

Das Rheiderland stöhnt unter einem starken Kälteeinbruch, Schulen schließen wegen einer Grippewelle, Schlittschuhläufer aus Ditzumerverlaat hängen bei Dreesmann in Pogum den Schöfel aus und fordern nach alter Tradition zum Schlittschuh-Wettlauf heraus. Das ist der 30. Januar 1933 im Rheiderland. In Berlin macht Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler.