Dem Ende entgegen — Weener wird „judenfrei”
Nach der erfolgreichen Flucht von Daniel de Vries am 29. August 1939 nach Holland hatte die Synagogengemeinde keinen Vorsteher mehr. De Vries war während seiner Amtszeit auch Verbindungsmann zur Stadtverwaltung gewesen und hatte in diesem Amt manche Probleme und Konflikte entschärfen können. Die Synagoge als Mittelpunkt des Gemeindelebens gab es nicht mehr, so dass für die verbliebenen Gemeindemitglieder nur noch die Möglichkeit bestand, untereinander und familiär die religiösen Feste zu begehen. Der ehemals als Vorsänger, Koscherschlachter und Gemeindediener tätige Salley Boley übernahm nach der Flucht von de Vries teilweise dessen Funktion bis zu seinem eigenen Fortzug aus Weener mit seiner Ehefrau Ende Oktober 1939 nach Schönlacke bei Schneidemühl (Pommern). Anfang Mai 1939 war er noch von der Hindenburgstraße 32 aus der „Dienstwohnung” mit seiner Familie in die Süderstraße 44 umgezogen. Ein paar Tage später verließ der einzige Sohn Jakob als 15jähriger seine Eltern und zog nach Ahlem bei Hannover. Dort, in der „Israelitische(n) Erziehungsanstalt für schulpflichtige und ältere Knaben und Mädchen”, erhielten junge Menschen eine Ausbildung im Handwerk, in Hauswirtschaft und Landwirtschaft, die der Vorbereitung auf eine mögliche Emigration dienen sollte. Ende 1938 erreichte die Emigration ihren Höhepunkt. Hatte bisher die Zahl der Weener verlassenden Juden bei durchschnittlich neun Personen pro Jahr gelegen, so waren es 1938 insgesamt 23 Personen. Von 1933-38 hatten sich 67 Personen abgemeldet. Während dieser Zeit waren sieben Personen verstorben, so dass Anfang 1939 nur noch 50 Juden in Weener lebten. Die letzte Geburt eines jüdischen Kindes, Philipp van der Zyl, hatte sich am 10. August 1937 in Weener ereignet Das Kind war jedoch noch vor der Pogromnacht mit den Eltern und Großeltern aus der Stadt verzogen. In Oude Pekela hatten die fünf Familienmitglieder inzwischen eine neue Heimat gefunden. Nur Alfred van der Zyl überlebte Auschwitz und andere Konzentrationslager.
Ende September 1939 wohnten noch 37 Juden in Weener. Darunter befanden sich drei Kinder im Schulalter, ein Kind im Kindergartenalter, neun unverheiratete Erwachsene und acht Ehepaare. Der älteste jüdische Einwohner war 92 Jahre alt. der jüngste vier Jahre. Zwei Drittel der Bewohner waren älter als 50 Jahre, allein zwölf waren älter als 65 Jahre. Vor allem die Alten, Besitzlosen, Kranken und Gebrechlichen blieben zurück. Doch aufopfernd und familienbewusst blieben auch teilweise Kinder und Schwiegerkinder zur Betreuung zurück. Wer von den Alten wollte sich noch einer kräftezehrenden Emigration oder einem Umzug stellen? So harrte man weiterhin aus und hoffte auf ein gütiges Schicksal.
Kein männlicher Jude zwischen 40 und 50 Jahren wohnte mehr in Weener, lediglich zwei Frauen aus dieser Altersgruppe. Zu den 21-40jährigen gehörten noch sechs Unverheiratete, darunter vier Frauen. Der Altersdurchschnitt hatte sich gegenüber 1933 um 15 Jahre auf 55 Jahre verschoben. Durch die neuen „Arisierungsmaßnahmen” und behördliche Anordnungen waren die noch in Weener wohnenden Juden inzwischen auch räumlich näher aneinandergerückt. Verteilt auf zehn Häuser wohnten Ende September in der
Süderstraße Nr. 27, 44, 45 und 57: | 17 Personen |
Adolf-Hitler-Str. (Norderstr.) Nr. 41 und 79: | 3 Personen |
Am Hafen Nr. 26: | 7 Personen |
Straße der SA (Neue Str.) Nr. 2: | 4 Personen |
Mühlenstraße Nr. 47: | 2 Personen |
Kreuzstraße Nr. 4: | 4 Personen |
Dabei handelte es sich um Mitglieder folgender Familien: Arons (2 Personen), Boley (1), Gerson (1), Jacobs (1), de Jonge (13), Löwenstein (5), Meyer (2), Pels (1), de Vries (7) und Weinberg (4).
Durch Tod (Samuel de Jonge, Viehhändler) und Fortzug des Ehepaares Boley verringerte sich die Gemeinde um drei weitere Mitglieder. Am Ende des Jahres 1939 hatten insgesamt 17 Personen Weener verlassen, allein 14 gingen in Ausland; vier davon ins Nachbarland Holland, acht nach Argentinien (Buenos Aires) und zwei nach England: beide unmittelbar vor Kriegsausbruch am 29. und 30. August! Der Kriegsbeginn verhinderte jede weitere Möglichkeit zur Flucht oder Emigration. Die hohe Anzahl der ins außereuropäische Ausland emigrierten Juden beweist, dass die zur Ausreise Entschlossenen sich nur weit außerhalb Europas in Sicherheit wähnten. Die Auswirkungen des Novemberpogroms von 1938 und die sich anschließende KZ-Haft hatten manchem Unentschlossenen die Sinne geschärft. Das führte dazu, dass in den Monaten April/Mai 1939 insgesamt zehn Personen, darunter fünf Kinder und Jugendliche, die Ausreise ins rettende Ausland antraten.
Im Frühjahr 1940 begann die Endphase der Synagogengemeinde Weener. Nachdem sie schon Ende 1939 ihre Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts verloren hatte und als jüdische Kulturvereinigung in das Weeneraner Vereinsregister eingetragen worden war, setzte der Ausweisungsbefehl vom Februar 1940 den noch in Weener lebenden Juden eine nur noch kurze Verweildauer. Dieser Ausweisungsbefehl war unter Zwang durch SS-Offiziere und Gestapobeamte gegenüber dem Auricher Gemeindeleiter W. Wolffs allen jüdischen Gemeinden im Regierungsbezirk Aurich telefonisch übermittelt worden und forderte sämtliche Juden Ostfrieslands auf, sich bis zum 1. April 1940 einen neuen Wohnsitz zu suchen. Personen über 70 Jahre konnten im „Israelitischen Altersheim” in Emden verbleiben. Zwei Frauen zogen im Februar dort hin.
Im Februar verließen 25 Juden ihren langjährigen Wohnsitz, für viele war er es schon über mehrere Generationen gewesen. Sie kamen vor allem bei Bekannten oder Verwandten in Norddeutschland unter, u. a. in Oldenburg (1), Bremen (7), Osnabrück (2), Minden (2), Hamburg (3) und Berlin (7). Am 10. Februar war die in der Süderstraße 45 wohnende ledige Sophie Meyer im Alter von 91 Jahren gestorben.
Am 1. März 1940 kehrten sechs weitere Juden der Stadt den Rücken. Das über 75 Jahre alte Ehepaar Josef und Sophie Arons, geb. Israels, fand in Begleitung seiner Tochter Helene in Berlin eine neue Unterkunft, wo Josef Arons am 6. April 1943 starb. Das Ehepaar Simon de Jonge und Rebecka, geb. Pels, aus der Süderstraße 97 kam nach Bremen-Vegesack, wo unter der gleichen Adresse schon andere Mitglieder der Familie wohnten. 1949 erklärte das Amtsgericht Bremen-Blumenthal beide mit Wirkung vom 8. Mai 1945 („Todestag”) nachträglich für tot. Am 6. März meldeten sich die beiden letzten noch in der Stadt Weener lebenden Juden bei der Stadtverwaltung ab. Der Manufakturist Benjamin de Jonge (61 Jahre) und seine Ehefrau Eise, geb. Strauß (48 Jahre), aus der Adolf-Hitler-Straße 79 gaben Bremen-Hastedt als ihren zukünftigen Wohnort an.
Nur knapp zwei Wochen nach Ablauf der gesetzten Frist forderte der Regierungspräsident in Aurich die Landräte zu einem Bericht über den Vollzug der Anordnung auf Am 26. April 1940 meldete der Landrat des Landkreises Leer, dass noch sechs Juden im Kreisgebiet wohnten, unter ihnen die ledige holländische Staatsangehörige Rosa Lazarus (geb. 11. Februar 1892 in Stapelmoor), wohnhaft in Stapelmoor. Zwischen Ende September und Anfang Oktober berichtete der Landrat in drei einzelnen Schreiben als Antwort auf die jeweiligen Verfügungen des Regierungspräsidenten den Vollzug der Entjudung der gewerblichen Wirtschaft und führte aus, dass im gesamten Kreisgebiet weder jüdische Gewerbebetriebe noch Einzelhandelsgeschäfte oder Handwerksbetriebe im Besitz von Juden vorhanden wären.
Am 7. April 1942 meldete der Landrat des Kreises Leer dem Regierungspräsidenten die Auswanderung von Rosa Lazarus aus Stapelmoor über Sonsbeck (Rheinland) nach Holland. Nun war Weener „judenfrei” geworden und ebenso auch die umliegenden Dörfer, die zum Gebiet der Synagogengemeinde Weener gehörten.