Emder Arzt promovierte 1940 mit einer Arbeit über die angebliche Vererbung von Asozialität
Beispiel „Asozialenkolonie Moordorf” / „Rassehygienische” Dissertation jetzt wiederentdeckt
Von Stefan Pötzsch
Ganze 20 Seiten umfasst die Dissertation „Beitrag zur Frage der Erblichkeit der Asozialität” aus dem Jahre 1940. Verfasst hat sie Meinhard B., geboren 1913 in Aurich, von 1931-1936 Studium der Medizin in Bonn, München und Hamburg, wo er auch 1938 bei Prof. Weitz mit der oben genannten Arbeit promovierte. Im gleichen Jahr wurde er Hilfsarzt am Gesundheitsamt in Emden, nach dem Kriege praktizierender Arzt in der Seehafenstadt. Diese Arbeit, von der nach Recherchen nur noch zwei weitere Exemplare in den Bibliotheken in Göttingen und Hamburg vorhanden sind, wurde jetzt zufällig in Aurich wiederentdeckt. Sie steht in enger Verbindung mit den bekannten nationalsozialistischen rassehygienischen Untersuchungen eines Dr. Horst Rechenbach (Moordorf - Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte und zur sozialen Frage) und Dr. Arend Lang (Zur Lösung des Asozialen-Problems durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dargestellt an der Ortschaft Moordorf). Inwieweit nun diese jetzt wieder aufgetauchte Arbeit damals in den Jahren ab 1934 dazu beigetragen hat, dass zahlreiche Einwohner Moordorfs gequält und entwürdigt wurden, indem man sie von Amts wegen sterilisierte, um unerwünschten „erbkranken” Nachwuchs zu verhindern, sei dahingestellt. Ob vielleicht gar Moordorfer unter den zahlreichen Opfern waren, die als „asoziale Häftlinge” in den KZs umkamen, ist unbekannt.
Das soziale Problem „Moordorf”, die allgemeine Verarmung einer ganzen Siedlung als Folge einer fehlenden Infrastruktur und der Vergabe viel zu kleiner, nicht existenzfähiger Kolonate, war der Obrigkeit bereits seit dem späten 18. Jahrhundert bekannt. Nur fühlte sich leider keine der nachfolgenden Regierungen verpflichtet oder in der Lage, das Problem auch zu lösen. Moordorf verarmte und viele seiner Bewohner wurden im Laufe der Jahrhunderte mit dem Stigma der „Asozialen ” behaftet.
„Asoziale” waren nach dem Sprachgebrauch der Nationalsozialisten „Menschen, die ein voraussichtlich dauerndes Unvermögen zeigen, sich als selbständige und nutzbringende Mitglieder der Volksgemeinschaft einzugliedern und denen die allgemeinen gültigen Normen, die ein geordnetes Gemeinschaftswesen in Familie und Staat garantieren, fehlen oder die sie ablehnen”, so der damals bekannte Vererbungsforscher Alfred Dubitscher.
Das am 14.7.1933 von der Reichsregierung beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” trat 1934 in Kraft. Mit ihm konnte erstmals - auch zwangsweise - sterilisiert werden, wer an „1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntington Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer körperlicher Missbildung” litt. Zudem galt das Gesetz auch für „an schwerem Alkoholismus” Leidende.
Nun war es durchaus nicht so, dass sich erst im Dritten Reich Mediziner, Soziologen, Verhaltensforscher und andere mit der „Rassenhygiene” oder „Rasse-Verbesserung” beschäftigten.
Schon um die Jahrhundertwende verstiegen sich Wissenschaftler wie Alfred Ploetz mit seiner „Gesellschaft für Rassenhygiene”, der Jurist Karl Binding, der Psychiater Alfred Hoche und viele andere in ihren rassistischen Ideen und Forderungen nach Auslese und „Ausmerzung” Minderwertiger. Die Nationalsozialisten griffen diese Ideen nur bis zur Konsequenz auf.
Den nationalsozialistischen Machthabern mit ihrem „Blut und Boden”-Wahn musste das Dorf Moordorf natürlich von Anfang an ein Dorn im „braunen Auge” gewesen sein. Und sie gedachten, das Problem auf ihre perfide Art und Weise zu lösen.
Im Jahre 1934 wurden vom „Reichsnährstand” erste Erhebungen über die Wirtschafts- und Wohnverhältnisse in Moordorf, über die Berufsgliederung seiner Bewohner, über die Kriminalität, politische Einstellung und erbbiologische Verhältnisse gemacht. Maßgeblich an diesen Erhebung beteiligt war Dr. Horst Rechenbach, Hauptabteilungsleiter im Rasse- und Siedlungsamt und SS-Standartenführer.
Seit 1934 waren den Gesundheitsämtern Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege angegliedert, die nach „unerwünschten” Erbanlagen suchen sollten. Bei dieser Untersuchungsreihe 1934 wurden zunächst nur die erwerbsfähigen Einwohner Moordorfs untersucht, das waren rund 750 Personen. Das Ergebnis dieser Untersuchung, die offensichtlich vom Gesundheitsamt Aurich zusammen mit Rechenbach durchgeführt wurde, überraschte nicht: Als „erbbiologisch bedenklich” wurden 18 % eingestuft, 52 % gar galten als „erbbiologisch unerwünscht”. Ein Großteil der Erwerbstätigen Moordorfs sollte also nach dem Willen der „braunen” Machthaber künftighin keine Kinder mehr zeugen! Eine geradezu monströse Vorstellung! Zudem ist überhaupt nicht feststellbar, wie man zu diesen Prozentzahlen kam. Es liegen keinerlei Angaben vor - weder von Lang noch von Rechenbach - wie man zu dieser Einschätzung gelangte, welche Kriterien sie angelegt haben. „Maßgeblich zur erbbiologisch-negativen Beurteilung der Bevölkerung war nicht allein das Vorliegen einer Erbkrankheit, wie angeborener Schwachsinn, genuine Epilepsie usw., sondern vor allem die asoziale Komponente”, so die einzige Erklärung von Lang. Die „asoziale Komponente” war offensichtlich gleichbedeutend mit Kriminalität, Arbeitslosigkeit verbunden mit dem Bezug von Sozialhilfe, niedriger Bildungsstand, Unmoral und politischer Unzuverlässigkeit.
Die Dissertation des Meinhard B.
Das Ergebnis der Auswertung der Untersuchung über Moordorf war dann die 1940 im Verlag des Reichsnährstandes herausgegebene finstere Publikation von Rechenbach, in der er mit pseudo-wissenschaftlichen Methoden nachweisen wollte, dass es sich bei Moordorf ... um das Beispiel einer völlig verfehlt angelegten ländlichen Siedlung handelt. Der Keim für die Missstände in Moordorf ist bereits in jenen Menschen zu suchen, die in den Jahren kurz nach 1765 und 1770 ihren Fuß auf Moordorfer Grund setzten.” Abschließend stellte er fest. „Es wäre ein Irrtum, wollte man - wie in früheren Jahren - derartige Missstände, wie sie in Moordorf zu finden sind, durch Änderung der Umweltverhältnisse, d.h. durch Besserung der Lebensverhältnisse der Einwohnerschaft, beheben.”
Im gleichen Jahr erschien dann die Dissertation des Meinhard B., die sich eindeutig auf die Langsche Denkschrift und das „Werk” von Rechenbach bezieht. Als eigenständiger Teil ist nur die Auflistung zweier Familien hinzu gekommen, mit der B. die Vererbung von „asozialem” Verhalten nachweisen wollte.
Er stellte fest: „Es sind ausgesprochen minderwertige Individuen, die sich durch immer wiederkehrende kriminelle Rückfälligkeit, Arbeitsscheu, Trunk- und andere Süchte, Prostitution, Unwirtschaftlichkeit, Lässigkeit und Verwahrlosung im häuslichen Leben und dadurch bedingter unablässiger Inanspruchnahme öffentlicher Mittel auszeichnen und als Schädlinge an der Volksgemeinschaft erweisen.”
Schließlich forderte er: „Um der Gefahr der weiteren Ausbreitung der minderwertigen Erbanlagen der Asozialen entgegen zu wirken, reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus. Wohl kann man asoziale Familien von jeglichen fördernden Maßnahmen ausschließen, jedoch bringt man sie dadurch nicht zum Verschwinden, noch kann man sie davon abhalten, sich fortzupflanzen. Denn bei der für sie typischen Einsichts- und Hemmungslosigkeit und ihrem Mangel an Verantwortungsbewusstsein werden sich die Asozialen niemals zu einer freiwilligen Geburtenbeschränkung verstehen. Und gerade darauf, oder noch besser, auf ein gänzliches Abschneiden des minderwertigen Erbstromes kommt es an. Um dieses Ziel zu erreichen, bleibt als einziges Mittel das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Aber die Hoffnung, einen großen Teil der Asozialen ohne ausdrückliche Einbeziehung der Asozialität in das GzVeN trotzdem durch dieses Gesetz erfassen zu können, hat sich nicht erfüllt. Wohl gelang es, einen geringen Prozentsatz Asozialer in Erbgesundheitsgerichtsverfahren zu erfassen, jedoch stand in diesen Fällen stets eine der Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes im Vordergrund und die asoziale Verhaltensweise wurde lediglich als Nebenerscheinung zur Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit mitbewertet” (...) „Anhand des Beispieles (Moordorf) wird gezeigt, dass Asozialität in erster Linie anlagegebunden ist. Umweltschädigungen treten demgegenüber an Bedeutung zurück, sie bedingen vielleicht individuelle Schädigungen, aber nie Sippenschädigungen. Die Belastung und der Schaden für die Allgemeinheit in erbbiologischer und wirtschaftlicher Hinsicht durch asoziale Familien und Sippen unterstreichen die oft erhobene Forderung nach einer Erweiterung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Sinne einer Einbeziehung der Asozialität in dieses.”
Dass die Veröffentlichungen von Lang und Rechenbach, vermutlich auch die von B., ein ungeheures persönliches und individuelles Unrecht angerichtet haben, ist unstrittig. Sie haben aber noch einen weiteren Effekt gehabt, nämlich den, dass eine ganze Gemeinschaft, die Ortschaft Moordorf diffamiert und in Verruf gebracht wurde. Der lobenswerten Arbeit von Andreas Wojak über Moordorf ist es letztlich zu verdanken, dass den Moordorfern endlich Gerechtigkeit wiederfahren ist. In diesem Zusammenhang ist auch die grundlegende Arbeit von Theo Meyer über die Urkolonisten zu nennen.
Quellen:
A. Lang, Zur Lösung des Asozialen-Problems durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dargestellt an dem Ort Moordorf, Regierungsbezirk Aurich. (Ungedr. Denkschrift), Aurich 1938; M. B., Beitrag zur Frage der Erblichkeit der Asozialität. Hamburg 1940; H. Rechenbach, Moordorf. Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte und zur Sozialen Frage, Berlin 1940; K. Scherer, „Asozial” im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990; A. Wojak, Moordorf. Dichtungen und Wahrheiten über ein ungewöhnliches Dorf in Ostfriesland, Bremen 1991; T. Meyer, Urkolonisten: die Anfänge der ostfriesischen Moorkolonie Moordorf, Pfaffenweiler 1996; S. Kramer, „Ein ehrenhafter Verzicht auf Nachkommenschaft: Theoretische Grundlagen und Praxis der Zwangssterilisation im Dritten Reich am Beispiel der Rechtsprechung des Erbgesundheitsobergerichts Celle, Baden-Baden 1999.
Donnerstag, den 13. März 2003, Ostfriesen-Zeitung / Seite 17