Antisemitische Maßnahmen und Einzelaktionen vor dem Novemberpogrom
Die Maßnahmen gegen die jüdischen Bürger erzeugten ein Klima, das nicht mehr durch Toleranz, Achtung und Menschenwürde gekennzeichnet war, sondern durch zunehmende Distanz und Entfremdung auf beiden Seiten. Wiederholt war von der Parteileitung der NSDAP allen Parteigenossen der personelle Verkehr mit Juden verboten worden, so z. B. durch die Anordnung des Hitler-Stellvertreters Heß vom 11. April 1935. Gleichzeitig forderte er alle Parteimitglieder und Angehörige der Gliederungen auf, über den Krebsschaden der Juden im Deutschen Staat immer wieder aufzuklären. Die antijüdischen Kampagnen und Verteufelungen wirkten sich bald so aus, daß Nachbarn auf offener Straße nicht mehr miteinander sprachen, weil jeder fürchtete, von Parteigängern denunziert zu werden. Selbst langjährige Schulkameraden oder ehemalige Bedienstete in jüdischen Familien und Geschäftshaushalten waren davon nicht ausgenommen. Sogar von jüdischer Seite wurde oftmals ausgesprochen: Gehen Sie doch bitte weiter, Sie bekommen doch nur Schwierigkeiten! Wir dürfen doch nicht miteinander stehen und reden! In diesem Klima der Angst und der Ohnmacht ereigneten sich seit 1935 viele antijüdische Maßnahmen und Einzelaktionen. Auf einige soll im folgenden eingegangen werden.
Ende Januar begann die Synagogengemeinde Weener ihre Gemeindestatuten zu ändern. Die sich verschlechternden wirtschaftlichen Verhältnisse vieler Gemeindemitglieder erzwangen eine Reduzierung der Begräbniskosten. Auch die Jahressteuer für jede Familie sollte verringert werden. Landrat Conring verweigerte die Genehmigung vom nationalsozialistischen Standpunkt aus, allerdings nicht aus sozialen Gründen. Vielmehr befürwortete er die Beibehaltung der alten Regelungen, weil dadurch die Juden ... sich möglichst auseinanderregieren und sie sich selbst zersetzen würden. Ende November genehmigte allerdings der Regierungspräsident in Aurich das erneut geänderte Statut, in dem das persönliche Haftungsrecht für an die Gemeinde abzuführende Steuern nicht mehr enthalten war.
Im Sommer 1935 hatte der wöchentliche Viehmarkt in Weener ein neues Gesicht erhalten. Zu dieser Zeit fand der Markt Ecke Marktstraße/Hindenburgstraße und auf dem sich anschließenden Vorplatz der Gastwirtschaft statt. Durch Anbringung eines Schildes war eine Stelle reserviert worden, die als „Platz für Juden" gekennzeichnet war. Jüdische Viehhändler sollten dort ihr Vieh anbieten. Der Zugang zu dieser „reservierten" Stelle wurde jedoch so überwacht, daß keiner sie in Anspruch nahm. Das beabsichtigte Ziel der Verdrängung und der Kontrolle war dadurch erreicht.
Am 20. Juli 1935 veröffentlichte die OTZ mit der Aufforderung „Volksgenossen, kauft nicht in folgenden jüdischen Geschäften" eine Liste aller noch damals in Ostfriesland existierenden jüdischen Gewerbebetriebe. Als „antisemitische Sondernummer" in Form einer Sonderbeilage gedruckt, wurden alle Namen und Anschriften jüdischer Geschäftsleute in den jeweiligen Städten und Gemeinden aufgeführt. Die Sonderbeilage hatte eine Auflage von 21000 Stück und einen Umfang von 32 Seiten. Danach soll es 1935 in Weener insgesamt noch 23 jüdische Geschäfte und Betriebsinhaber gegeben haben von insgesamt 268 genannten für den Regierungsbezirk Aurich. Mehr als ein Drittel der genannten Betriebe für Weener führen die Bezeichnung „Viehhändler". Das bedeutet, daß zu dieser Zeit immer noch die langjährigen Handelskontakte zu Bauern funktionierten, die trotz der vielen Boykottaufrufe weiterhin Juden wie eh und je als Handelspartner akzeptierten. Allein sechs Schlachtereibetriebe wurden genannt, die jetzt unter schwierigen Umständen mit Ware beliefert wurden und offenbar noch Kundschaft hatten. Insgesamt können 16 der 23 Betriebe dem Bereich der Viehwirtschaft zugeordnet werden; die anderen sieben dem Bereich Haushaltswaren und Textilien. Die inhaltliche Konzeption der Beilage war ein Gemisch von ideologischer Rassen- und Rechtfertigungspolitik gegenüber Juden, von Karikaturen in „Stürmer"-Manier, von Inseraten „arischer" Volksgenossen, die ihre „rein deutschen Geschäfte" anpriesen und einem Hauptartikel über die ostfriesische Judenfrage. Acht weitere Einzelbeiträge, thematisch jeweils unterschiedlich, aber alle mit der gleichen Zielrichtung, sollten ein Bild entstehen lassen, das die Juden als „Schmarotzer", „Sittenverderber", „Kulturschänder", „Plünnenreißer" und „Rasseschänder" darstellte.
Vom Widerstand des Schlachters Amos Moritz de Vries gegen das NS-Regime und den sich daraus ergebenden Folgen handelt der folgende Fall. A. M. de Vries hatte in der Hindenburgstraße ein gutgeführtes Geschäft und verkaufte trotz der bisherigen Boykottmaßnahmen gut an die immer noch zahlreiche Kundschaft. Im Zuge der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wurde deshalb 1935 auf seinem eigenen Grundstück ein „Stürmer-Kasten" aufgestellt mit der Aussage: „Wer noch beim Juden kauft, wird öffentlich bekannt gemacht werden." A. M. de Vries beschwerte sich darüber beim Reichswirtschaftsminister und berief sich dabei auf einen in der Presse veröffentlichten Artikel, wonach ein Boykott nicht mehr erlaubt sei. Seine Beschwerde hatte Erfolg, und der diskriminierende Aushang mußte aus dem Kasten entfernt werden. Doch damit war die Sache nicht beendet. Welche Enttäuschung und Wut mußte bei den örtlichen Parteigliederungen geherrscht haben, weilder Beschwerde eines Juden gegen die Maßnahmen der örtlichen Partei stattgegeben wurde und diese sich dadurch öffentlich blamiert fühlte! Die Reaktion und Bestrafung folgte umgehend, denn gleichzeitig mit der Antwort aus Berlin wurde de Vries in Schutzhaft genommen und ins Konzentrationslager Esterwegen überwiesen. Dort erst erfuhr er den Grund für seine Verhaftung und erklärte dann später nach Folterungen und Erpressungen, daß er den „Stürmer-Kasten" sogar umgeworfen habe. Zusätzlich mußte er sich noch der Falschaussage gegenüber dem Wirtschaftsminister bezichtigen. De Vries verdankt seine spätere Entlassung dem Einsatz seiner Frau und vieler Freunde und alter Kriegskameraden aus Weener. Am 29. August 1939 gelang es ihm mit Hilfe von guten Freunden nach Holland zu flüchten und 1946 von England zu seinem Bruder Daniel in die USA auszuwandern. Seine Frau Sophie, geb. Jacobs, und die drei noch im schulpflichtigen Alter befindlichen Kinder Jürgen, Wilhelm und Hilde blieben zurück. Am 18. Februar 1940 verließen die Kinder Weener und kamen in ein "Waisenhaus" nach Hamburg; die Mutter hielt sich vom 1. März 1940 bis zum 13. April 1940 in ihrem Geburtsort Werlte/Hümmling auf, um von dort aus auch nach Hamburg zu gehen. Später wurden Mutter und Kinder nach Riga verbracht und dort in einem Wald erschossen.